ADHS und andere psychische Störungen bei Kindern verstehen
Ein Blick hinter das Verhalten: ADHS und andere psychische Störungen bei Kindern verstehen
Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kind, das in der Schule ständig unruhig ist, sich nicht konzentrieren kann und von einem Gedanken zum nächsten springt. Als Eltern oder Lehrkraft fragen Sie sich vielleicht: „Warum kann es sich nicht einfach hinsetzen und die Aufgaben erledigen?“ Doch das Verhalten eines Kindes ist selten einfach. Insbesondere, wenn wir über Kinder sprechen, die mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) oder anderen psychischen Störungen zu kämpfen haben, müssen wir tiefer blicken.
ADHS ist eine der häufigsten neuropsychologischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen, aber sie ist bei Weitem nicht die einzige. Depressionen, Angststörungen, autistische Spektrumstörungen und oppositionelle Verhaltensstörungen sind ebenfalls häufig in dieser Altersgruppe zu finden. Dabei bleibt das Verständnis für diese Störungen – sowohl bei Fachleuten als auch im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs – oft hinter den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zurück.
ADHS: Viel mehr als nur Unaufmerksamkeit
Bei Kindern mit ADHS sind drei zentrale Verhaltensmuster besonders hervorzuheben: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Doch diese Verhaltensweisen treten nicht immer gleich stark auf. Einige Kinder zeigen vor allem Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, ohne jedoch besonders hyperaktiv zu sein. Andere wiederum haben vor allem Schwierigkeiten, ihre Impulse zu kontrollieren, sind impulsiv und neigen dazu, unüberlegte Entscheidungen zu treffen. Dies führt oft zu Missverständnissen. Ein Kind, das auf den ersten Blick „ungezogen“ oder „rebellisch“ wirkt, könnte tatsächlich unter ADHS leiden.
Wichtig ist es, ADHS nicht als eine einzige Verhaltensweise oder gar als „fehlende Erziehung“ abzutun. Kinder mit ADHS erleben häufig einen hohen Grad an Frustration, weil sie die Anforderungen des Alltags, sei es in der Schule oder zu Hause, nicht so erfüllen können, wie es von ihnen erwartet wird. Die ständige Kritik, die sie erfahren, sei es von Erwachsenen oder Gleichaltrigen, kann ihr Selbstwertgefühl erheblich beeinträchtigen.
Ängste und Depressionen: Wenn das Leben erdrückend wird
Während ADHS oft durch auffälliges Verhalten wahrgenommen wird, sind Angststörungen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen oft stillere Begleiter. Ein Kind, das unter Angst leidet, zeigt nicht unbedingt sofort offensichtliche Symptome. Vielleicht wirkt es ruhig oder zieht sich zurück, aber innerlich wird es von ständigen Sorgen und Ängsten erdrückt. Schulische Leistungen können abfallen, soziale Kontakte werden vermieden, und das Kind zieht sich immer mehr in seine eigene Welt zurück.
Depressive Symptome bei Kindern und Jugendlichen äußern sich oft anders als bei Erwachsenen. Sie können in Reizbarkeit und Wut münden, anstatt in der typischen Traurigkeit, die bei Erwachsenen mit Depressionen in Verbindung gebracht wird. Diese Kinder und Jugendlichen kämpfen innerlich oft einen stillen Kampf, der von der Außenwelt unbemerkt bleibt – bis sie schließlich unter der Last zusammenbrechen.
Autismus und das Spektrum der Wahrnehmung
Autistische Spektrumstörungen (ASS) umfassen ein breites Spektrum an Verhaltensweisen, das von stark eingeschränkter sozialer Interaktion bis hin zu repetitiven Verhaltensmustern reicht. Bei manchen Kindern äußert sich dies durch Schwierigkeiten, in Gruppen zu agieren oder soziale Signale zu verstehen. Andere wiederum haben sensorische Empfindlichkeiten und reagieren extrem auf Lärm, Licht oder Berührungen.
Kinder mit ASS brauchen eine Umgebung, die ihre speziellen Bedürfnisse respektiert. Sie brauchen Geduld, Verständnis und klare Strukturen. Doch auch hier wird oft der Fehler gemacht, das Verhalten dieser Kinder als „absichtlich“ oder „unangemessen“ zu werten, ohne zu verstehen, dass es Teil ihrer Wahrnehmungswelt ist.
Das Zusammenspiel psychischer Störungen
Es ist selten, dass eine psychische Störung isoliert auftritt. Kinder mit ADHS haben beispielsweise ein erhöhtes Risiko, auch unter Angststörungen oder Depressionen zu leiden. Dieses Phänomen, das als Komorbidität bezeichnet wird, erschwert oft die Diagnose und Behandlung. Denn das eine Symptom kann das andere überlagern oder verstärken, was zu einer komplexen Verhaltensdynamik führt.
Ein Kind, das etwa mit ADHS diagnostiziert wird, könnte gleichzeitig mit überwältigenden Ängsten zu kämpfen haben, die es ihm zusätzlich erschweren, den Schulalltag zu bewältigen. Dies führt zu einem Kreislauf aus Frustration, Stress und zunehmendem Rückzug oder aggressivem Verhalten. Eltern und Fachkräfte sollten sich daher bewusst sein, dass das Verhalten eines Kindes viele Ursachen haben kann und eine umfassende Diagnostik notwendig ist, um dem Kind gerecht zu werden.
Verhaltenstherapie als Schlüssel zum Verstehen und Handeln
In meiner jahrelangen Arbeit mit Kindern, die unter ADHS und anderen psychischen Störungen leiden, hat sich immer wieder gezeigt, dass eine frühe und fundierte verhaltenstherapeutische Intervention entscheidend ist. Verhaltenstherapie zielt darauf ab, sowohl dem Kind als auch den Eltern und Lehrkräften Werkzeuge an die Hand zu geben, um das Verhalten besser zu verstehen und konstruktiv damit umzugehen.
Bei ADHS-Kindern arbeiten wir daran, Impulse zu kontrollieren, Aufgaben in kleine, bewältigbare Schritte zu unterteilen und Belohnungssysteme zu schaffen, die positives Verhalten verstärken. Bei Kindern mit Angststörungen geht es oft darum, schrittweise mit den angstauslösenden Situationen umzugehen und Strategien zur Bewältigung zu entwickeln. Dabei ist es besonders wichtig, das Kind nicht nur auf seine Diagnose zu reduzieren, sondern es in seiner Ganzheit zu sehen.
Verständnis statt Urteil
Psychische Störungen bei Kindern erfordern mehr als nur ein schnelles Urteil oder eine vorschnelle Diagnose. Sie erfordern Geduld, Aufmerksamkeit und vor allem Verständnis. Jedes Kind ist einzigartig, und jedes Kind verdient es, in seiner Einzigartigkeit gesehen und unterstützt zu werden.
Eltern, Lehrkräfte und Fachleute müssen lernen, genauer hinzusehen, bevor sie ein Verhalten als „Problem“ abtun. Denn oft ist dieses Verhalten ein stummer Hilferuf – ein Ruf nach Verständnis, Unterstützung und einem Ort, an dem das Kind sich sicher und angenommen fühlen kann.